Tradition... Große Traditionen hatte sie nicht. Eher kleine Dinge wie die paar Tage Völlerei bei ihrer Familie zu Weihnachten- falls sie es schafften- und der fürchterliche Silvester Squaredance, zu dem man trotzdem irgendwie immer ging... Tradition hatte für sie viel von Festhalten an alten Bräuchen und dem bewussten Ignorieren von Innovationen. Ein zweischneidiges Schwert: In manchen Fällen- wie den herzlichen familiären Zusammenkünften war es schön. Andere Dinge waren es durchaus auch mal wert, in Vergessenheit zu geraten.
"Gerne"
Zara musterte Arrietty neugierig. Widersprüche waren meistens interessant.
Arrietty nickte und überlegte wo sie Anfangen sollte. Wissen Sie was Rakshasi bedeutet? Die Frage war rhetorisch gemeint und so wartete sie nicht auf eine Antwort. Dämon oder besser gesagt eine Gattung höherer Dämonen im hinduistischen Glauben. Sie drehte das Glas mit dem Daumen und dem Zeigerfinger ihrer linken Hand. Meine Mutter nannte mich so. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. Meine Eltern waren Farmer in Indien. Sie hatte einige Rinder und etliches Kleintier. Es ging ihnen gut. Sie verdienten genug Geld für ein einfaches, aber gutes Leben. Bis ich geboren wurde. Ab da ging es bergab. Erst wurde mein Vater krank und starb. Dann erkrankten die Rinder und sie mussten notgeschlachtet werden. Innerhalb eines Jahres verarmte meine Familie. Sie machte erneut eine Pause und trank einen Schluck.
Meine Familie ist sehr religiös. Meine Mutter sagte immer, ich sei unter einem schlechten Stern geboren worden. Ich sei eine Rakshasi. Ein Dämon der Unheil über die Familie bringt. Jedes Wort aus meinem Mund sei Blasphemie und würde Andere ins Verderben ziehen. Ich solle nur das aller nötigste Sagen und kein Wort mehr. Meine Seele, sofern ich eine besitze, sei ohnehin verdammt aber ich könne Andere davor bewahren wenn ich einfach mein schändliches Maul halte. Sie blickte auf und betrachtete Zara. Sie verstieß mich als ich alt genug war um einigermaßen für mich sorgen zu können. Das war vor 26 Jahren.
Arrietty atmete tief durch und lehnte sich zurück. Ich bin gläubig und ich respektiere die Traditionen und Gebräuche meines Volkes. dabei deutete sie auf ihr Gewand. Sie nickte abschließend einige Male und schwieg dann.
Während Arrietty sprach wurden Zaras Augen immer größer. Noch eine Gemeinsamkeit, auch wenn sie in Indien wohl eher Milch- als Fleischfarmen hatten. Soweit sie wusste wurden Kühe dort verehrt und von gläubigen Hindus nicht gegessen. Doch einem kleinen Kind die Schuld an tragischen Ereignissen zu geben...? In ihrer Familie wäre niemand auf die Idee gekommen, Patrick die Schuld am Tod ihrer Mutter zu geben, auch wenn sie an Komplikationen nach der Geburt starb.
"Das ist krass... äh... glauben Sie das denn selbst oder wurde es Ihnen nur so eingebläut, dass Sie es verinnerlicht haben?"
Zara hatte es nicht mit Religion und konnte es nur schwer nachvollziehen, dass man tatächlich so etwas glauben konnte.
"Aber faszinierend, dass wir den gleichen oder ähnlichen Background haben. Ich komm auch von einer Rinderfarm. Tiefstes Montana. Wunderschön aber im Winter arschkalt! Mastrinder.... Sorry- die sind bei uns nicht heilig "
Wir huldigen eher dem Burger- Gott...
Doch aus Respekt sprach sie es nicht aus. Jonathan war auch gläubig, jedoch lebte er es als etwas vollkommen Privates für sich. Für gewöhnlich bekam sie kaum mit wenn er betete.
Spielt keine Rolle was ich Glaube. Meine Familie tut es und der Glauben gibt ihnen Recht. Wer bin ich also, dass ich das in Frage stelle? Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering wäre so bin ich es meiner Familie dennoch schuldig. Ich handle und verhalte mich wie es mir aufgetragen wurde. Alles Andere spielt keine Rolle. Die Verbitterung über ihre Worte waren kaum zu überhören, es erklärte aber warum sie so war wie sie war.
Sie müssen sich nicht entschuldigen. Rinder sind ja nur bei uns heilig. Alles gut also. Sie blickte im Anschluss geistesabwesend auf ihr Glas und schwieg.
"Naja....ob man einer Familie etwas schuldig ist, die einen verstößt...."
Zara verzog leicht das Gesicht.
"In erster Linie sollte man sein Verhalten- sofern es legal ist- nur vor sich selbst rechtfertigen müssen, unabhängig davon was andere darüber denken."
Zara trank einen Schluck Cola. "Ich hab meistens wenig drum gegeben was andere denken. Bei meiner Familie war das anders... Meine Mutter ist gestorben als ich sechs war, kurz nach der Geburt meines jüngeren Bruders. Die Farm lief schlecht... mein Dad war plötzlich alleine mit Farm und drei Kindern. Aber wir haben zusammen gehalten und uns gemeinsam aus der Scheiße gezogen. Die ganze Familie hat im Rahmen ihres Könnens mit angepackt. Sobald meine Mathekenntnisse dafür ausreichten hab ich die Buchhaltung übernommen. Als ich dann mit 18 aus der Provinz weg wollte, hatte ich etwas das Gefühl, sie im Stich zu lassen. Wenn ich konnte, habe ich sie finanziell unterstützt aber durch den Mantukrieg hab ich sie erst zehn Jahre später wieder gesehen, aber es kam nie ein Vorwurf. Inzwischen läuft die Farm recht gut. Mein älterer Bruder hat eine Familie gegründet und übernimmt sie mehr und mehr, sofern mein Dad ihn lässt..."
Die Antwort auf diese Frage lag klar auf der Hand:
"Ich hab mein ganzes Leben nichts anderes gemacht. Ob Farm oder Träger...Hier sind nur die Zahlen anders. Überall wird gegessen, es werden Kleidung und Maschinen benötigt, repariert...Ersatzteile bestellt... Es gibt zwei Dinge in denen ich wirklich gut bin: das Jonglieren von Zahlen, Nachschub und Vorräten- und Ballet."
Warum sie ihr eigentlich gut gehütetes Geheimnis so freigiebig ausplauderte wusste sie selbst nicht. Irgendwie hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, es wirklich geheim zu halten, da sie Angst hatte, es würde sie nicht tough genug wirken lassen. Das hatte sie nicht mehr nötig.
"Wenn man 18 ist und nicht in der hintersten Provinz versauern und jemanden heiraten will mit dem man über zehn Ecken verwandt ist, dann muss man raus in die Welt. Ich hätte nach New York gehen und Tänzerin werden können... oder mich den Exilanten anschließen und die Ausbildung im früheren HQ auf Athena machen. Ich bin keine große Idealistin...ich wollte nur rum kommen und Abenteuer erleben. War ne Ernüchterung, da bin ich ehrlich. Mit Abenteuern war da nichts- außer in der Partyszene. Die war auf Athena wirklich ein Träumchen. "
Sie nickte immer wieder mal während Zara erzählte.
Ich stimmte Ihnen zu. Man tut das was man am besten kann. So ist man effizient. In Ihrem Fall sind es die Zahlen und das Talent für Organisation. Sie machte eine kurze Pause. Meines ist das Fliegen.
Ein Lächeln konnte sie sich dann aber doch nicht verkneifen. Ballet ist eine wunderschöne Form des Tanzes. sagte sie mit einer gewissen Ehrfurcht in der Stimme. Ich selber habe früher auch getanzt. Es nennt sich Kathak. Ein religiöser Tanz der hauptsächlich in Nord Indien vorkommt.
Arrietty lehnte sich zurück und betrachtete Zara. Mrs. West, sie stecken voller Überraschungen. und ein erneutes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
"Das Ballett mit seiner fast militärischen Strenge und Präzision hat mir nach dem Tod meiner Mutter Struktur und Halt gegeben. Auf eine Art hab ich das sehr genossen. Es gab mir für ein paar Stunden in der Woche Klarheit. Eine Lehrerin hat es meinem Vater empfohlen mich anzumelden- in der Hoffnung, dass ich endlich aufhöre meine Klassenkameraden zu verprügeln."
Sie grinste und setze einen unschuldigen Blick auf.
"Ich war ein kleiner Wildfang um es milde auszudrücken. Und wie sind Sie von der Farm zur Fliegerei gekommen?"
Nachdem mich meine Familie verstieß, schlug ich mich so gut es ging durch. Ich schaffte es über Umwege nach Canada und begann dort Gelegenheitsjob zu übernehmen. Unter anderem Kurierfahrten. Diese führten mich eines Tages zu einem Transportunternehmen. Starflight Cargo. Dies suchten zu der Zeit Piloten für ihre Transportflotte. Ausbildung und Fluglizenz inklusive. Naja....Ich meldete mich, stach die anderen Mitwerber im Einstellungstest aus und bekam den Job. 7 Jahre schiffte ich Container von A nach B. Die Bezahlung miserabel, aber ich stand auf eigenen Beinen.
Arrietty spielte mit ihrem Glas in der Hand. Ich sparte mein Geld mit dem Ziel mich als Freelancer selbstständig zu machen. Klappte dann auch. Ich besorgte mir eine schrottreife aber flugtaugliche ausgemusterte Arrow. Nachdem ich sie nach und nach reparierte erledigte ich die ersten Aufträge. Kopfgeldjagden, Aufklärungseinsätze, Eskorten etc. Sie nickte. Eher zu sich selbst als zu Zara. Lief ne Zeitlang gut, aber der Drang etwas sinnvolles, etwas für Menschheit zu tun wuchs langsam. Also parkte ich meine Arrow und schrieb mich bei der Navy ein. Rutschte relativ schnell durch die Akademie. Jetzt bin ich hier.
